„Wir werden die europäische Identität nicht finden“

Was kann das moderne Europa aus der griechischen Mythologie lernen? Philosoph Liessmann und Literat Köhlmeier auf launiger Spurensuche in Tirol.

Ein Autor und ein Philosoph treffen einander Anfang Dezember im verschneiten vorweihnachtlichen Tirol, konkret am Samstag auf der Bühne des Europäischen Mediengipfels in Seefeld. Was darf man sich von dem Gespräch erwarten? Eine philosophisch-kulturelle Aufarbeitung der Weihnachtsgeschichte? 

Falsch gedacht. Bei der öffentlich zugänglichen Veranstaltung zum Abschluss des Gipfels gehen die Diskussionen nämlich noch ein paar Jahrtausende weiter zurück. Bis zur griechischen Mythologie, um genau zu sein. Die findet Philosoph Konrad Paul Liessmann sowieso interessanter. Denn: Die Geschichte von „Gott Vater, Gott Sohn und Heiligem Geist“ sei relativ schnell erzählt. Der griechische Götterhimmel hingegen biete eine Fülle an Geschichten – und möglichen Lehren, die daraus gezogen werden können. Vor allem für einen Gipfel, der das Europäische in den Mittelpunkt rückt.

DEN Europäer gibt es nicht 

So erzählt Autor Michael Köhlmeier, dass Europa am Anfang nicht etwa ein Staatenbund oder ein Kontinent war – sondern eine phönizische Königstochter. Von Göttervater Zeus in der Form eines Stiers geraubt, vergewaltigt und beschenkt. Eine große Zukunft wollte Zeus Europa geben - „sodass man in 1.000 Jahren ihren Namen noch kennt“. 

Der moderne Europäer lernt: „Wir kommen aus Asien, aus der Fremde“, betont Liessmann. Und: „Europas Schicksal ist immer und untrennbar mit dem Vorderen Orient verbunden. Der französische Philosoph Paul Valéry, den Liessmann zitiert, hat Europa gar als „Wurmfortsatzes des asiatischen Festlandes“ bezeichnet.

Aber auch: Andere und anderes war schon vorher da. Letzteres ist für Liessmann wohl auch der Grund, wieso Europa bis heute mit einem gewissen Minderwertigkeitskomplex zu kämpfen hat. Das Gefühl, China und den USA hinterherzuhinken sei, so der Philosoph, nun einmal „das europäische Schicksal.“

Gewalt und Harmonie 

Was lehrt uns der Mythos der Europa noch? Dass wir uns wohl damit abfinden müssen, dass unsere Geschichte mit einem Raub und einer Vergewaltigung beginnt, betont Liessmann. Und dass wir vor allem aufhören sollen, nach der europäischen Identität zu suchen. „Ihr werdet sie nicht finden!“, so die desillusionierende Botschaft Liessmanns an alle Europäer im Raum. Europas Bruder Kadmos hat nicht nach seiner Schwester gesucht, sondern eine Stadt gegründet. Umgelegt auf moderne Verhältnisse heißt das wohl laut Liessmann: „Vergiss die Identitätsdebatte, mach‘ etwas, das Zukunft hat!“ 

Und dann wird’s auch in Seefeld in Tirol doch noch fast ein bisschen weihnachtlich. Köhlmeier bringt Kadmos Tochter Harmonia in die Erzählung ein. Und Liessmann sucht gleich nach harmonischen Tönen: „Harmonie ist nicht, wie viele missverständlich glauben, der Gleichklang, sondern der Zusammenklang des Unterschiedlichen,“ findet der Philosoph. In einem modernen Europa sollte man sich daher die Frage stellen, wie man Gegensätze in einen Zusammenklang bringen können, ohne diese aufzugeben. Wie schön wäre das Bild eines runden Tisches, so Liessmann, an dem „große und kleine Mächte“ alle Religionen und Länder völlig gleichberechtigt zusammensitzen könnten. 



Redaktion: Text: Anna Wiesinger, Bild (c) Europäischer Mediengipfel/Florian Lechner
Kategorie: Artikel
Datum: 06.12.2025

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